Kaum ein sogenanntes ‚Nutztier‘ erreicht in der industriellen Tierhaltung auch nur annähernd ein Sechstel seiner natürlichen Lebenserwartung. Die allermeisten werden geschlachtet, bevor sie das Erwachsenenalter erreicht haben. Auf den Punkt gebracht: Wir Menschen essen Kinder. Es sind nicht unsere eigenen Kinder, aber Säuglinge, Kleinkinder und Jugendliche anderer Spezies.
Klingt schaurig. Selbst für viele Menschen, die ansonsten wenig Probleme damit haben, die Körper von toten Tieren zu essen. Darum trifft man auch regelmäßig auf Zeitgenossen, die einem glaubwürdig versichern, dass sie natürlich kein Lamm, Kalb oder Spanferkel verspeisen würden. Schließlich seien das ja noch Kinder… Was bei diesen Jungtieren ganz offensichtlich ist, trifft aber nicht nur auf sie zu, sondern auf alle Tiere in der Massentierhaltung.
Lebensdauer vs. Lebenserwartung von Nutztieren
Tiere, die zur Fleischproduktion gehalten werden, erleben in der Regel noch nicht einmal die Geschlechtsreife. Die Kalkulation dahinter: Am Beginn des Lebens wachsen die Tiere besonders schnell, doch wenn sie die Geschlechtsreife erreichen, verschlechtert sich das Verhältnis von Futtereinsatz und Wachstum. Rentabler als das pubertierende Tier weiter aufzuziehen, ist es für die Industrie daher, das Tier zu diesem Zeitpunkt zu schlachten und seinen Platz im Stall bzw. Käfig neu zu vergeben. Tiere, die für die Produktion von Milch und Eiern gehalten werden, bleiben länger am Leben. Aber auch sie schaffen es nicht, dem Kindesalter zu entwachsen.
Das zeigt sich, wenn man die natürliche Lebenserwartung der Nutztiere der Lebensdauer gegenübergestellt, die sie in der Massentierhaltung erwartet. Dabei ist es gar nicht so einfach, die natürliche Lebenserwartung zu bestimmen, da diese in der landwirtschaftlichen Praxis nicht erreicht wird. Belastbare offizielle Angaben dazu gibt es nicht. Daher gehen nachfolgende Angaben auf Erfahrungswerten etwa von Gnadenhöfen und Tierparks zurück. Sie weichen bei unterschiedlichen Quellen ab, was aber an der Grundaussage nichts ändert.
Das kurze Leben der Schweine in der Tierhaltung
Keine Fleischsorte ist in Deutschland und Europa so beliebt wie Schweinefleisch. Im Durchschnitt isst jeder Deutsche jährlich 50 Kilogramm Schweinefleisch. Im Jahr 2019 wurden in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 55 Millionen Schweine gehalten und geschlachtet. Damit ist Deutschland der größte Produzent von Schweinefleisch in Europa.
Schweine sind verspielte, sensible und eigentlich sehr reinliche Tiere. Die Art wurde vor mehr als 9.000 Jahren aus dem Wildschwein domestiziert. Zahlreiche Studien bescheinigen Schweinen, sehr intelligent zu sein, intelligenter etwa als Hunde. Sie interagieren sehr stark mit ihrem Umfeld und können wie wir Menschen sogar träumen. Die Lebenserwartung von Schweinen liegt bei etwa 15 Jahren, in manchen Fällen erreichen Schweine sogar ein Alter von mehr als 20 Jahren.
In der Intensivtierhaltung haben Schweine, die zur Fleischproduktion gemästet werden, nach sechs Monaten ihr Schlachtgewicht von rund 120 Kilogramm erreicht. Sie werden dann mit Tiertransporten zum Schlachter gebracht, industriell getötet und zerlegt. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird häufig zwischen Ferkeln und Schweinen unterschieden. Mit diesen beiden Wörtern werden aber nicht die Kinder von den Erwachsenen unterschieden, sondern lediglich Säuglinge von Kindern im Kindergartenalter.
Auf eine etwas längere Lebensdauer kommen Zuchtsauen, die in Abferkelbuchten für den Ferkelnachschub sorgen. In engen Abferkelbuchten werfen sie zweimal pro Jahr zehn oder noch mehr Ferkel und säugen diese anschließend. Die Zuchtsauen werden bis zu drei Jahre lang am Leben gelassen, bis ihre Geburtsleistung nachlässt und die Tiere getötet werden, um der nächsten Generation Platz zu machen. Zwar könnten die Tiere theoretisch weiter Ferkel gebären – nach menschlichen Maßstäben sind sie ja noch in der Pubertät. Aber für die industrielle Verwertungslogik ist es dennoch effizienter, das Tier durch eine noch jüngere und effizientere Zuchtsau zu ersetzen.
Die Lebenserwartung von Schweinen liegt eigentlich bei bis zu 20 Jahren | Yair Ventura Filho @ Pixabay
Auch Rinder erreichen nur einen Bruchteil ihrer natürlichen Lebenserwartung
Der durchschnittliche Deutsche isst pro Jahr 14 Kilogramm Rind- und Kalbfleisch. Ein Teil des Rindfleischs wird importiert, aber auch in Deutschland werden jedes Jahr 3,5 Millionen Rinder und mehr als 300.000 Kälber zur Fleischproduktion gehalten und geschlachtet. Rinder gelten als gesellige Tiere, die in kleinen Gruppen zusammenleben. In der Natur könnten sie problemlos ein Lebensalter von 20 bis 30 Jahren erreichen.
In der Intensivtierhaltung kommt kein Tier auch nur annähernd dahin. Mastrinder werden ein bis zwei Jahre lang mit Kraftfutter gemästet, bevor es zur Schlachtbank geht. Bei sogenannten ‘Milchkühen’ ist es etwas anders: Mit vier bis fünf Jahren leben sie vergleichsweise am längsten. Da die Milch genauso wenig wie bei einer Frau von alleine fließt, müssen die Tiere permanent künstlich besamt werden, damit sie Kälber gebären und die Milchproduktion nicht abreißt. Die Kühe sind auf Hochleistung getrimmt. Nach rund vier Jahren lässt die Milchproduktion nach. Dann werden die Kühe getötet und durch produktivere neue Tiere ersetzt.
Besonders hart trifft es die Kälber, die ein Beiprodukt der Milchproduktion sind. Die Kälber werden nach der Geburt ihren Müttern entrissen. Sie bekommen natürlich nichts von der Milch ihrer Mutter ab, die ist den Menschen vorbehalten, sondern eine Mischung aus Milchpulver und Wasser. Dabei wird die Ernährung künstlich eisenarm gehalten, damit das ‘besonders zarte’ Fleisch auch eine dazu passende helle Färbung bekommt. Einige weibliche Exemplare werden dann zu Milchkühen aufgezogen. Viele andere Kälber werden entweder gleich getötet und entsorgt oder nach drei bis sechs Monaten Mast für den Verzehr geschlachtet.
Rinder können eigentlich bis zu 30 Jahre alt werden | Freestocks Photos @ Pixabay
Huhn ist nicht gleich Huhn
Hühner leben in der Natur in Kleingruppen zusammen und werden häufig von einem Hahn beschützt. Sie könnten es auf eine Lebensdauer von fünf bis zehn Jahren bringen, würde der Mensch das zulassen. Dabei hat der Mensch durch Züchtung zwei komplett unterschiedliche Rassen von Hühnern geschaffen: Masthühner und Legehennen.
Masthühner sind genetisch so verändert, dass sie schnell so wie möglich Muskelfleisch ansetzen. Per Definition sind das noch Vögel, aber fliegen können diese Tiere längst nicht mehr. In Deutschland werden pro Jahr rund 621 Millionen Hühner zur Fleischproduktion gehalten. Masthühner werden bereits nach fünf bis sechs Wochen geschlachtet und zu Chicken Nuggets und anderen Speisen verarbeitet. In der Natur könnten die Tiere rund 64-mal so alt werden.
Legehennen sind ganz anders gebaut und durch die Züchtung auf das Legen von möglichst vielen Eiern optimiert. Für die Hälfte aller zur Eierproduktion geborenen Hühner ist bereits nach wenigen Stunden Schluss. Da männliche Exemplare naturgemäß keine Eier legen können, aber für die Fleischproduktion zu schwach gebaut sind, hat die Industrie keine Verwendung für sie. Diese sogenannten Bruderküken werden nach der Geburt aussortiert und dann vergast, geschreddert oder einfach in den Müll geworfen, wo sie sich gegenseitig tottrampeln. Dieses Schicksal ereilt allein in Deutschland jedes Jahr mehr als 40 Millionen Küken.
Die andere Hälfte der Population ‘darf’ Eier für den Verzehr durch Menschen legen. Doch ähnlich wie bei der Kuh werden auch Legehennen nicht bis zu ihrem natürlichen Tod gehalten, sondern nur solange sie mit Hochleistung abliefern. Im Schnitt legt ein Huhn in der Massentierhaltung rund 300 Eier pro Jahr. Lässt die Legeleistung nach, müssen die Legehennen einer neuen Generation Platz machen und werden geschlachtet. Das ist etwa eineinhalb Jahren der Fall.
Die natürliche Lebenserwartung von Hühnern liegt bei bis zu zehn Jahren | Artem Beliaikin @ Pexels
Hummer könnten 140 Jahre lang leben
Was für die Hühner gilt, findet sich vergleichbar auch bei anderen Vögeln, die zur Fleischproduktion gehalten werden: Truthähne könnten in Freiheit etwa 15 Jahre leben, als Nutztier werden sie nach zwei bis drei Monaten getötet. Puten werden in der Natur bis zu 15 Jahren alt, in der Zucht nur vier bis fünf Monate. Enten könnten 15 bis 20 Jahre alt werden, wenn sie nicht nach wenigen Monaten auf der Schlachtbank landen würden. In manchen Fällen klafft die Lebenserwartung von Nutztieren und ihre tatsächliche Lebensdauer besonders krass auseinander: Gänse können in der Natur sogar 30 bis 40 Jahre werden, doch für die allermeisten ist schon nach vier Monaten Schluss.
Auch bei Fischen liegen häufig Welten zwischen biologischer Lebenserwartung und tatsächlicher Lebensdauer. Das gilt für den Fischfang und erst recht für die industrielle Züchtung von Fischen in Aquakulturen, Der Hummer, den Menschen im Gourmet-Restaurant verspeisen, hat in der Natur eine Lebenserwartung von 140 Jahren. Auch viele Fische, die auf dem Speiseplan von Menschen stehen, können deutlich über 50 Jahre alt werden, darunter Aale, Hechte und Welse. Rein theoretisch, versteht sich.
Wäre das Tierleben ein Menschenleben
Eine durchschnittliche deutsche Frau – nennen wir sie mal Anna Müller – hat eine Lebenserwartung von 83 Jahren. Wenn sie im Land Berlin aufwächst, kommt sie als Einjährige in die Kita und wird im Alter von sechs Jahren eingeschult. Als Zwölfjährige wechselt Lieschen Müller von der Grundschule auf die Oberstufe, um nach weiteren vier bis sechs Jahren ihren Schulabschluss zu machen. Sollte Anna Müller Abitur machen, dann erwarten sie danach noch 66 Jahre – und damit mehr als drei Viertel – eines hoffentlich erfüllten Lebens.
An diesen Punkt kommt regulär kein einziges sogenanntes Nutztier. Rechnet man einmal um, wie viel Prozent ihrer natürlichen Lebenserwartung die tatsächlich zugestanden bekommen und hält das gegen das Leben von Anna Müller, dann ergibt sich folgendes Bild:
Kein einziges Tier, das zum Zweck der Fleischproduktion gehalten wird, erreicht – umgerechnet auf das Leben eines Menschen – auch nur das Schulalter. Insbesondere Vögel wie Hühner, Gänse und Enten werden geschlachtet, lange bevor sie überhaupt das Kindergartenalter erreichen. Schweine, Rinder und andere zur Fleischproduktion gehaltene Säugetiere würden zwar das Kindergartenalter noch erleben, nicht aber das Schulalter.
Jene Tiere, die nicht unmittelbar in die Mast zur Fleischproduktion gehen, erleben gemessen am menschlichen Lebensverlauf Teile des Schulalters, aber auch nicht mehr. Auch Kühe in der Milchproduktion, Hühner in der Eierproduktion und Schweine in der Ferkelproduktion werden geschlachtet, bevor sie das Erwachsenenalter erreichen. Beispiel Kuh: Während Anna Müller als Durchschnittsdeutsche ihr erstes Kind im Alter von 30 Jahren bekommt, hat eine Kuh – umgerechnet auf die Lebensjahre eines Menschen – im Alter von 14 bereits drei Kälber geboren und mehr als 23.000 Liter Milch produziert. Aus Sicht der Industrie hat sie dann ‚ausgedient‘ und wird geschlachtet.
Lebenserwartung in ökologischer Tierhaltung
Nun beziehen sich diese Zahlen auf die Intensivtierhaltung. Wie schaut es in der ökologischen Landwirtschaft aus? Erreichen die Tiere dort einen großen Teil ihrer natürlichen Lebenserwartung? Viele Menschen pflegen ja das Narrativ, es sei durchaus legitim, ein Tier zu essen, wenn es vorher ein halbwegs gutes Leben hatte. Häufig noch ergänzt um den Hinweis, dass es ja Verschwendung wäre, ein verendetes Tier nicht für die menschliche Ernährung zu nutzen.
Aber die Erzählung vom glücklichen Tier, das ein gutes Leben hatte, bevor es schließlich altersmüde zur Schlachtbank geführt wird und der Menschheit so noch einen letzten Dienst verrichtet, ist schlicht eine Illusion: Mal abgesehen davon, dass auch die Haltungsmethoden in der ökologischen Tierhaltung nur bedingt etwas mit der natürlichen Lebensweise der Tiere zu tun haben, sind auch die Tiere aus ökologischer Aufzucht noch Kinder zu dem Zeitpunkt, an dem sie geschlachtet werden.
Die Unterschiede sind eher graduell als prinzipiell. Ein Masthuhn in ökologischer Tierhaltung wird nach rund zwölf Wochen geschlachtet statt nach sechs Wochen in der konventionellen Landwirtschaft. Zur Erinnerung: Gemessen an ihrer natürlichen Lebenserwartung können Hühner fünf bis zehn Jahre alt werden. Während ein Huhn in der Biohaltung rund doppelt so lang lebt, trifft das bei anderen Tieren nicht zu. Schweine und Rinder in ökologischer Tierhaltung werden nicht wesentlich älter als ihre Artgenossen in den Ställen der Massentierhaltung.
Am Ende ist der Weg zum Schlachter ohnehin derselbe wie in der Intensivtierhaltung. Dass manche Tiere geringfügig länger leben als in der Massentierhaltung ändert wenig daran, dass sie nur einen Bruchteil ihrer natürlichen Lebenserwartung erleben. Ob nun mit oder ohne Auslauf – von artgerechter Haltung kann zumindest so lang keine Rede sein, wie den Tieren der Großteil ihres eigentlichen Lebens versagt bleibt.
Ausgewählte Quellen: