Es gibt einige Bilder, die aus keinem größeren Wahlkampf der letzten Jahrzehnte wegzudenken sind. Dazu gehören die Infostände der Parteien in den Fußgängerzonen, an denen Luftballons und Kugelschreiber verteilt werden, wie auch die aus der Zeit gefallenen Wahlplakate an den Laternenmasten. Dazu gehört der Moment, in dem der sozialdemokratische Kandidat auf dem Höhepunkt der Rede das Sakko auszieht und die Hemdsärmel hochkrempelt. Vor allem gehören dazu aber Bilder, auf denen Kandidaten und Kandidatinnen symbolisch aufgeladene Lebensmittel verspeisen. Insbesondere die Wurst im Wahlkampf hat eine lange, parteiübergreifende Tradition.
Grundsätzlich wäre es ja spätestens in diesem Wahlkampf an der Zeit, intensiv über Wurst, Fleisch und Milchprodukte zu sprechen. Schließlich haben sich dieses Mal nicht nur die Grünen das Thema Klimaschutz auf die Fahne geschrieben, sondern alle demokratischen Parteien – wenn auch in unterschiedlicher Tiefe und Glaubwürdigkeit. Da die Landwirtschaft in ihrer konventionellen Form eine der größten Ursachen für die Erderwärmung darstellt, stärker noch als der Mobilitätsbereich, müsste die Politik eigentlich intensiv über die ökologischen Folgen und über Alternativen diskutieren. Doch wie in früheren Jahren findet die Wurst im Wahlkampf weniger als inhaltliches Thema statt, sondern als eine eigenartige Folklore, bei der sich die Politik kulinarisch dem Volk anbiedert.
Wurst als wichtigstes Wahlkampf-Accessoire
Auf dem Weg nach ganz oben kommt eigentlich niemand aus der Politik darum herum, öffentlich Bratwurst zu verspeisen – beim Schützenfest, am Wahlkampfstand, beim Grillen im Ortsverein. Dabei steht die Bratwurst stellvertretend für alle möglichen Wurstsorten. Denn davon gibt es landauf, landab sehr viele. In Thüringen muss es schon die Thüringer Rostbratwurst sein, in Berlin und im Ruhrgebiet lässt sich Volksnähe am besten mit Currywurst demonstrieren, in Bayern mancherorts mit Weißwurst, woanders mit einer Nürnberger. Im Norden der Republik darf es auch mal ein Fischbrötchen sein.
Die Botschaft dieser Bilder ist klar und sagt mehr als hundert Seiten Wahlprogramm: ‘Seht her, hier steht jemand aus der Mitte des Volkes, mir könnt ihr bedingungslos vertrauen. Ich esse die gleichen Dinge wie ihr und sie schmecken mir.’ Volksverbundenheit, Bodenständigkeit, Bescheidenheit – das sind die charakterlichen Zuschreibungen, die sich die Wahlkämpfenden von dieser symbolischen Anbiederung an des Volkes Seele erhoffen. Ganz nebenbei lässt sich mit der lokal verbreiteten Wurstsorte auch noch die Verbundenheit mit der jeweiligen Region zum Ausdruck bringen. Noch besser funktioniert diese kulinarische Anbiederung natürlich, wenn man auch noch ein Bier dabei trinkt. Aber das bietet sich nicht in jeder Situation an.
Manchmal ist das sicher ein zufälliger Schnappschuss: Wenn einem jemand auf einem Wahlkampf-Parcours eine heiße Bratwurst hinhält, ist es für die Kandidierenden schwer bis unmöglich, diese abzulehnen, ohne die problematische Botschaft auszusenden, dass man sich für etwas Besseres hält. In den meisten Situationen dürfte die Wurst im Wahlkampf aber bewusst inszeniert sein. Manchmal auch über Stunden hinweg, denn häufig steht die Bratwurst auch im Mittelpunkt der gesamten Veranstaltung: Etwa dann, wenn die Kandidierenden sich selbst an den Grill stellen, um mit Wählern ins Gespräch zu kommen.
Kulinarischer Wahlkampf ist kein Selbstläufer
Nicht alle meistern die Herausforderung, sich kulinarisch dem Volk anzubiedern, mit Erfolg. So ging etwa der Versuch des damaligen britischen Premierministers David Cameron gründlich schief. Cameron, dem der Ruf eines Snobs vorauseilte, wollte sich bei einem Gartenfest in Dorset mitten im Wahlkampf betont volkstümlich inszenieren und verspeiste einen Hotdog. Das Problem: Entgegen aller Gepflogenheiten nahm er den Hotdog nicht auf die Hand, sondern verspeiste ihn mit Messer und Gabel. Damit konterkarierte er natürlich das Ziel, sich als Mann des Volkes zu inszenieren, und zog die Häme der versammelten britischen Presse auf sich.
Nicht umsonst sind Politikerinnen und Politiker darauf bedacht, dass möglichst keine Fotos von ihnen in Nobelrestaurants wie dem Grill Royale oder dem Borchardt oder etwa beim Verspeisen eines Hummers entstehen. Das wäre das Gegenteil von Volksnähe und schadet dem Ruf in der Wählerschaft.
Wurst und Würde vertragen sich nicht
Der kulinarische Wahlkampf ist also eine Wissenschaft für sich. Darum haben sich auch schon einige Menschen intensiver damit auseinandergesetzt. Etwa der Journalist und Politologe Constantin Alexander, der vor einigen Jahren Bilder von wurstverspeisenden Politikern auf dem tumblr-Blog ‘PeoplebitingintoBratwurst’ sammelte und analysierte. Er gab vor ein paar Jahren eine Reihe von Interviews zur Inszenierung von Volkstümlichkeit mithilfe solcher Symbolik und hielt auch ganze Vorträge dazu, etwa auf dem Digitalkongress re:publica oder dem Science Slam.
Warum es so gut wie unmöglich ist, eine Bratwurst mit Würde zu essen, und was man dabei beachten sollte, hat Alexander etwa in der taz beschrieben: ‘Es gibt schlicht keine würdevolle Art. Man sollte vermeiden, zu gierig zu wirken. Ganz schlimm ist es, die Augen zuzumachen beim Kauen. Man sollte kraftvoll zubeißen, aber nicht zu doll – denn sobald man das im Mund hat und ihn wieder aufmachen müsste, um Kälte reinzulassen, ist es zu spät.’ Sein Fazit: Wirklich anschaulich sind solche Bilder bei niemandem, aber manche haben den Dreh mit der Wurst im Wahlkampf doch besser raus als andere.
Die Wurst im Wahlkampf ist überparteilich
Parteipolitisch zuordnen lassen sich Bratwurst und Currywurst im Wahlkampf nicht oder jedenfalls nicht eindeutig. Was das betrifft, gibt es in Deutschland eine ganz große Koalition aller Parteien: Zwar gibt es eine auffällige Häufung solcher Bilder bei Kandidatinnen und Kandidaten von SPD, CDU und CSU. Doch nicht nur die ehemals großen Volksparteien, sondern auch Grüne, Linke und FDP nutzen die Wurst zur Inszenierung von Volksnähe und Bodenständigkeit. Wobei es gerade bei wahlkämpfenden Grünen nicht immer die klassische Wurst sein muss, sondern auch mal der Gang zur Dönerbude sein darf. Denn dort lassen sich mit dem Döner in der Hand neben Volkstümlichkeit und Bodenständigkeit auch noch Weltoffenheit und Toleranz demonstrieren.
Hin und wieder muss die Wurst auch als Giveaway im Wahlkampf herhalten: Während andere im Wahlkampf mit Luftballons und Buttons agieren, setzte die CDU in einem der letzten Wahlkämpfe im Südwesten auf eine Lyoner-Wurst, die mit dem Konterfei des Bundestagspräsidenten und Langzeitabgeordneten Wolfgang Schäuble bedruckt ist. Muss man erstmal drauf kommen.
Eine Lyoner mit dem Konterfei von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble als Giveaway im Wahlkampf
SPD is(s)t Currywurst
Besonders sticht die SPD mit Wurst-Inszenierungen heraus. Keiner aus der Spitzenpolitik hat bereitwilliger öffentlich Bratwurst und Currywurst verspeist, als Bundeskanzler a.D. Gerhard Schröder. Auch im aktuellen Wahlkampf 2021 war es der sozialdemokratische Kandidat Olaf Scholz, der besonders öffentlichkeitswirksam mit der Bratwurst in der Hand posierte. Wobei das in diesem Fall nicht nur Wahlkampf-Folklore war, sondern als möglicher Anreiz für Unentschlossene gedacht war, sich vielleicht doch noch gegen Covid-19 impfen zu lassen. Eine Bratwurst als Impfanreiz – klingt bizarr, noch bizarrer ist aber, dass das dem Vernehmen nach auch noch funktioniert haben soll.
Auf die Spitze gebracht hat die Wurst-Folklore das Plakatmotiv ‘Currywurst ist SPD’. Das stammt nicht etwa aus einem Satiremagazin, die NRW-SPD hat das im Landtagswahlkampf 2012 tatsächlich plakatiert. Das Plakat wurde nicht von einer Agentur entwickelt, sondern entstand im Rahmen eines Crowdsourcing-Wettbewerbs: Die SPD hatte dazu aufgefordert, mögliche Plakatmotive einzureichen. Zwei Politikstudenten entwickelten das Currywurst-Motiv und das setzte sich mit 4.500 Facebook-Likes gegen alle konkurrierenden Vorschläge durch. Die SPD hielt Wort und integrierte ‘Currywurst ist SPD’ in ihre Wahlkampagne, die 2012 bekannterweise für die SPD mit einem großen Erfolg endete. Welchen Anteil die Wurst-Folklore daran hatte, lässt sich wohl schwer bemessen, aber geschadet hat es der Kampagne jedenfalls nicht.
Auch der in diesen Tagen omnipräsente Karl Lauterbach stellte 2017 im Interview mit Spiegel Online fest: ‘Die SPD ist und bleibt die Partei der Griller’. Allerdings nicht, ohne der sozialdemokratischen Klientel ein paar Tipps an die Hand zu geben, wie sie das Grillerlebnis für sich etwas gesünder gestalten können.
Wahlplakat des nordrhein-westfälischen SPD-Landesverbandes zur Landtagswahl 2012
Die Wurst im Wahlkampf als Politikum
Die häufigste Form, in der einem Wurst im Wahlkampf und im allgemeinen politischen Geschäft begegnet, ist diese gerade beschriebene Volksfest-Folklore. Es gibt aber auch seltene Momente, in denen Wurst und Fleisch zum Politikum werden. So war das 2013, als die Grünen mit dem zaghaften Vorschlag eines Veggie-Days in deutschen Kantinen den geballten Volkszorn zu spüren bekamen. Die politischen Wettbewerber und die BILD-Zeitung griffen das dankbar auf und spitzten das Thema so zu, dass der Streit um den Veggie Day über Wochen den Wahlkampf mitbestimmte. Auch wenn das an den ursprünglichen Vorschlägen völlig vorbei ging, gelang es ihnen doch, den Grünen das Label der Verbotspartei anzuhängen. Nicht wenige Politologen schreiben dieser aus den Ufern geratenen Debatte auch einen großen Anteil daran zu, dass das Wahlergebnis der Grünen am Ende deutlich hinter den Erwartungen zurückblieb.
Dieses Trauma wirkt bis heute nach: Seit der Erfahrung mit dem Veggie Day sind die Grünen sehr darauf bedacht, das ihnen unterstellte Image einer Verbotspartei abzustreifen, zumindest beim Thema Fleischessen. In den neueren Parteiprogrammen findet man daher auch keine Vorhaben, die ernsthaft bei einer Verbrauchsreduktion von tierischen Lebensmitteln ansetzen, sondern allenfalls Vorhaben, mit denen das sogenannte ‘Tierwohl’ etwas verbessert werden soll.
Stattdessen mischen auch die Grünen munter bei der Wurst-Folklore mit: Jüngst veröffentlichte die Partei einen Werbespot, in dem die Kampagnenmacher das romantische Volkslied ‘Kein schöner Land’ aus dem Jahr 1840 zu ‘Ein schöner Land’ umdichten. Der Spot wendet sich an die viel umworbene politische Mitte und betont den strukturkonservativen Kern der Grünen. Darin findet sich auch eine Szene, in der sich die heimat- und naturverbundenen Deutschen um einen Grill versammeln. Offenbar braucht es aus Sicht der Grünen Kampagnenmacher solche Bilder, um jeden Verdacht zu zerstreuen.
In einem volkstümlichen Wahlspot der Grünen darf die Grillparty im deutschen Vorgarten nicht fehlen
Die Currywurst als ‘Kraftriegel der Facharbeiter’
Dennoch ist die Wurst in diesem Wahlkampf schon mehrmals zu einem kleinen Politikum geworden. Nicht aufgrund einer Initiative aus der Politik zur Reduktion des Fleischkonsums – die gibt es ja nicht – sondern zum Beispiel aufgrund einer Randnotiz aus dem VW-Konzern: In einer internen Mitteilung aus dem August 2021 hieß es, dass die VW-Currywurst vom Speiseplan der Kantine im Wolfsburger Markenhochhaus gestrichen wird und dass die Kantine künftig hauptsächlich pflanzliche Speisen anbieten wird. Wohlgemerkt: Angekündigt wurde damit nicht das Ende der VW-Currywurst, die einen eigenen Wikipedia-Eintrag hat. Sondern lediglich, dass eine Kantine von Hunderten im Konzern die Currywurst aus dem Programm streicht – verbunden mit dem Hinweis, dass die Beschäftigten wenige Meter weiter in einer anderen Kantine weiter ihre klassische VW-Currywurst essen können, wenn ihnen danach ist.
Dennoch dauerte es nur wenige Stunden, bis sich diese kleine Meldung zu einer grotesken Debatte unter dem Hashtag #rettetdiecurrywurst hochschaukelte. Losgetreten hat das ein LinkedIn-Post von Gerhard Schröder: ‘Wenn ich noch im Aufsichtsrat von VW säße, hätte es so etwas nicht gegeben: Eine der Werkskantinen streicht die Currywurst vom Speiseplan und stellt komplett auf fleischfreie Angebote um (…) Currywurst mit Pommes ist einer der Kraftriegel der Facharbeiterin und des Facharbeiters in der Produktion. Das soll so bleiben.’
Neben zahlreichen Wahlkämpfenden verschiedenster Parteien rief auch Franz Josef Wagner, berüchtigter Kolumnist der BILD-Zeitung, in seiner unnachahmlichen Art zur Rettung der Currywurst auf: ‘Die In-die-Wurst-Beißer schufen das Wirtschaftswunder. Eine Currywurst war die Belohnung nach der Maloche. Das Leben schmeckte. Und außerdem, ich will nicht, wenn ich in meine Currywurst beiße, an den Weltuntergang denken. Ich will was Gutes in meinem Mund haben.’
Tweet von Markus Söder zum Politischen Aschermittwoch 2021
Ein Veggie-Burger: theoretisch möglich, aber sinn- und geschmacklos
Auf der konservativen Seite des politischen Spektrums belassen die Akteure es häufig nicht dabei, sich durch den demonstrativen Verzehr von Bratwurst und Currywurst dem gemeinen Volk anzudienen. Dazu kommt hier häufig noch eine hämische Herabsetzung von veganen oder vegetarischen Alternativen. Dort gehören unlustige Altherrenwitze zu Lasten von vegan lebenden Menschen zum Standardrepertoire.
So war es Parteichef Markus Söder persönlich, der sich während des Vorwahlkampfes um die Spitzenkandidatur der Union zu folgendem Tweet hinreißen ließ: ‘Die CSU hat ihn (den Politischen Aschermittwoch) erfunden und die anderen machen es nach. Das ist wie Tofu-Wurst oder Veggie-Burger – theoretisch möglich, aber sinn- und geschmacklos.’ Das war wenige Tage, nachdem Söder erneute mehr Entschlossenheit beim Klimaschutz angemahnt hat.
Tweet von Markus Söder zum Politischen Aschermittwoch 2021
Polit-Folklore statt politischer Inhalte
Es ist wohl vorprogrammiert, wie es im Wahlkampf 2021 im Hinblick auf die Wurst weitergeht: Statt elementare Fragen von ökologischen und ethischen Auswirkungen des Fleischkonsums in den Wahlkampf zu tragen oder ambitionierte Vorschläge zur Förderung von pflanzlichen und kultivierten Alternativen zu Fleisch und Wurst zu machen, werden sich landauf, landab überall Kandidierende weiter mit Bratwurst und Currywurst inszenieren – und zwar über das gesamte Parteienspektrum hinweg.
Damit steht der Bundestagswahlkampf in einer Reihe mit allen größeren Wahlkämpfen der jüngsten Vergangenheit. In einem Wahlkampf, in dem über die Parteigrenzen hinweg einhellig versichert wird, dass Klimaschutz das wichtigste Thema der nächsten Legislaturperiode sein wird, ist das allerdings besonders bemerkenswert.
Ausgewählte Quellen:
- Artikel im Magazin Fluter über Wurst und Wahlkampf
- Artikel bei Handelsblatt.com über Wurstsymbolik im Wahlkampf
- Artikel bei Spiegel Online über das Currywurst ist SPD-Motiv
- Artikel in der Süddeutschen Zeitung zum Thema Wurst und Wahlkampf
- Artikel der Daily Mail über David Camerons Wahlkampfauftritt mit Hotdog
- Interview mit dem Politologen Constantin Alexander in der taz
- Detektor.fm-Podcast zum Thema Kulinarischer Wahlkampf